Jörg Sasse - Texte
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Wo ist Trotzkij?

Erstmals erschienen in 'Living', 8/95

Wenn ich durch eine fotografische Abbildung eines Getränkes Durst bekomme, dann kann ich die Erfahrung machen, daß zwar mein Durst wirklich ist, nicht aber das Getränk. Angenommen das, was sich darstellt, wird von mir als Bier erkannt und erzeugt auch den Wunsch nach einem Bier, ist dies kein Garant dafür, daß vor der Kamera, die das fotografische Abbild erzeugte, jemals wirklich ein Bier gestanden hat. Es muß etwas gewesen sein, was am ehesten meiner visuellen Vorstellung von Bier entspricht. Das kann z. B. Tee mit Eischnee besser, als ein frisch Gezapftes, daß viel zu schnell im warmen Studio vor der Kamera aufhört, frisch gezapft auszusehen.

Die Bildunterschrift eines gedruckten Reportage-Fotos gibt Informationen über einen Sachverhalt, der auf dem Foto nicht zu sehen ist. Es liegt an unserer Bereitschaft, dem Autoren und seiner subjektiven Sicht in Bild und Text zu vertrauen, welche Schlüsse wir ziehen, was wir für wahr und was für unwahr halten. Diese Gläubigkeit setzt sich aus den verschiedensten Kriterien zusammen, immer jedoch Kriterien, die außerhalb der Fotografie liegen. Die Technik, die zur Erstellung der Fotografie benutzt wurde, spielt dabei nahezu keine Rolle.

Das Foto im Ausweis wirkt nicht nur deshalb fremd, weil jeder es gewohnt ist, sich selbst seitenverkehrt aus dem Spiegel zu kennen. Das Portrait eines bekannten Menschen kann als getroffen bezeichnet werden, wenn sich durch das Abbild Assoziationen einstellen, die sich mit dem Wissen um die Person vereinbaren lassen. Doch auch dieses Wissen liegt außerhalb der Fotografie selbst.
Eine Fotografie kann nur Dokument ihrer eigenen Existenz sein. Nicht das 'Was ist dort abgebildet' mit dem Verweis auf 'Wirklichkeit' macht eine Fotografie autonom, sondern das 'Wie ist etwas abgebildet'.
Die Frage nach dem 'Wie' stellt nicht nur die Frage nach den Bedingungen des Mediums, sondern auch nach der Wahl des Mediums selbst.

Zu den Bedingungen der Fotografie gehört es, mit einem bereits gefüllten Bildraum umzugehen. Die Möglichkeiten der Reduktion sind eingeschränkt auf die Wahl des Ausschnitts und die Art des Lichts, das verwendet wird. Im weiteren fotografischen Prozeß gibt es noch die Retusche, das Freistellen und die Montage. Je nach Art und Aufwand sind Eingriffe schwerlich oder überhaupt nicht am Endergebnis zu entdecken. Solche Eingriffe gibt es, seitdem es die Fotografie gibt.
Bildbearbeitungungsprogramme am Rechner stellen zunächst eine (technische) Verfeinerung, oder besser Umsetzung dieser Prozesse dar. Durch die Übertragung der Bildinformationen vom belichteten Film oder Papier auf den Rechner wird das Medium gewechselt. Bei der weiteren Verarbeitung gelten also neue Bedingungen. Dabei spielt weniger als zuvor eine Rolle, daß es bei der Bearbeitung bestimmter Bildteile um diese als Bedeutungsträger geht, sondern vielmehr um deren Beschaffenheit auf der Fläche.
Dies wird zu Verwirrung führen, wenn der Blick auf Fotografie von dem geprägt ist, was über die Fotografie selbst hinaus weist.
Ohne Zweifel ändert sich durch die Maschine Computer der Blick auf vieles, doch wenige der aufgeworfenen Fragen sind neu. Vielleicht war es früher weniger populär, sie zu stellen.

Jörg Sasse, 1995